Die Idee des Wiener Gründerzeit-Zinshauses gestern und heute
Walter Senk im Gespräch mit Architekt DI Peter Nageler von nonconform ZT gmbh und DI Michael Baert, Vorstand der ifa – Institut für Anlageberatung AG
Bericht von Herbst 2015
Gebäudehöhe, Geschoßanzahl und Nachhaltigkeit. Diese Grundvoraussetzungen machen das Gründerzeithaus prägnant und flexibel.
Weniger ist mehr – mit kurzen und prägnanten Gesetzen der Wiener Bauordnung aus dem Jahr 1859 wurde die Basis für eine Immobilie geschaffen, die nicht nur alle Bauperioden und Stile überstanden hat, sondern der man auch beste Zukunftschancen einräumt.
DIE ALLESKÖNNER
Ziemlich sicher wird man sich vor 160 Jahren kaum mit dem Thema Lebenszykluskosten und mit zukünftigen Nutzeranforderungen beschäftigt haben, aber genau das zeichnet die Gründerzeithäuser aus, wie sie in den Jahren 1840 bis 1918 entstanden sind. Bei der Bauordnung von 1859 hat man in Wien weit – sehr weit – vorausgeblickt. Sie ist die Grundlage für eine unglaubliche Erfolgsgeschichte, welche die Gründer-zeithäuser angetreten sind. Das liegt an ihrer Struktur.
Bei der Wiener Bauordnung von 1859, welche die Grundlage für die Gründerzeithäuser war, handelte es sich erst um die zweite offizielle Bauordnung, die von der Stadt Wien per Gesetz erlassen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es in Wien außer der Feuerordnung, die seit dem Mittelalter bestand, keine baurechtlichen Vorschriften. Mit der ersten Wiener Bauordnung um 1829 wurden Richtlinien eingeführt, die sich vor allem mit der Geschoßanzahl und Straßenbreite beschäftigen.
Die Bauordnung von 1859 definierte dann erstmals „umfangreichere“ Rahmenbedingungen: Dabei wurden als Eckpunkte die maximale Gebäudehöhe von 24,7 Metern (damals 13 Klafter) festgelegt sowie eine Mindeststraßenbreite von 15,2 Metern (8 Klafter) – die Raumhöhe musste mindestens 3,16 Meter betragen (10 Schuh). In zentralen Lagen konnten mit diesen Vorgaben bis zu fünf Stockwerke errichtet werden. In den Vororten war die mögliche Gebäudehöhe drei und in den Vorstädten vier Stockwerke, wobei die Raumhöhe jedoch einen Schuh (31 Zentimeter) niedriger als in der Altstadt sein durfte.
Diese maximale Bauhöhe sowie die Generalbaulinie der breiten und rechtwinkelig zueinander laufenden Straßen, die einen Raster bildeten, gaben das klare Korsett für die Bauherren vor.
WENIGER IST MEHR
Damit waren zwar die Höhe und die Zahl der Geschoße reglementiert, die Anzahl der Wohnungen und deren Ausgestaltung aber blieben dem Bauherrn selbst überlassen. Eine wesentliche Voraussetzung ist allerdings im Paragraf 27 der Bauordnung noch aufgeführt: „Bezüglich der Nachhaltigkeit wird festgehalten, dass der Bauführer (ausdrücklich) gute und dauerhafte Materialien verwenden soll.“ Auf die Erdgeschoßzonen wird in Paragraf 30 kurz und bündig eingegangen: Sie sollten so gestaltet sein, dass im Erdgeschoß Lokalitäten (und Werkstätten) im Ermessen des Bauführers ermöglicht werden, Wohnflächen jedoch nur unter besonderen Bedingungen zulässig sind. Damit waren die Fixpunkte für ein flexibles Gebäude festgelegt, das nicht nur baukulturell bemerkenswert ist, sondern auch charakteristische Qualitäten hat. Wenn man die heutige Bauordnung betrachtet, so muss man sagen: Weniger ist mehr.
Seit den 50er bzw. 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts kommt es zu einer deutlich strikteren Auf- teilung der Funktionen. Die Wohnungen haben ab diesem Zeitpunkt die Flexibilität verloren, welche die Altbauwohnungen auszeichnet. Nicht nur die Flexibilität, noch einen anderen wesentlichen Vorteil haben die Wohnungen heute nicht mehr: die Chance, nach oben zu bauen. Hochbetten, Abstellbereiche oder auch Galerien sind faktisch nur in Altbauten mit ihren entsprechenden Zimmerhöhen möglich und haben schon so manchen Umzug erübrigt. Zwei Hochbetten mit einer Wohnlandschaft darunter − und schon sind 8 Quadratmeter mehr in der Wohnung.
DER LEGITIME NACHFOLGER
Als Ergebnis eines Forschungsprojektes zum Thema „Die Stadt 2020“ hat die Projektgemeinschaft raith nonconform architektur gemeinsam mit der TU Wien DAS NEUE STADTHAUS® entwickelt. DAS NEUE STADTHAUS® bietet ein zeitlich nahezu unabhängiges Grundsystem bzw. ein Halbfertigprodukt, das sich offen und flexibel – so wie das Gründerzeithaus – an gerade notwendige Bedürfnisse angleichen lässt. DAS NEUE STADTHAUS® soll dessen Nachfolger werden und vor allem auch in bereits bebauten Vierteln zur Sanierung und Verdichtung von Bezirken eingesetzt werden.
Der Grund, warum bis dato noch keine Stadthäuser gemäß diesem Konzept errichtet wurden, liegt in der aktuellen Wiener Bauordnung. Da bei Neubauten nicht die Bruttogeschoßfläche, sondern die Höhe der entscheidende Faktor ist, fällt durch höhere Räume ein Geschoß weg, womit sich die Häuser als Renditeobjekt für einen Investor schwer rechnen – auch wenn man durch die höheren Räume und entsprechend hohen Fenster eine größere Trakttiefe erreichen kann. Mittlerweile hat aber die Stadt Wien reagiert und beginnt, die Bauordnung zu lockern, um die Entwicklung eines nutzungsoffenen und zukünftig anpassungsfähigen Gebäudekonzepts zu ermöglichen. Ein Mixed-used- Building ist eben nur so gut, wie es auch flexibel ist, denn das lässt temporär unterschiedliche Nutzungsarten zu – eine sehr wichtige Eigenschaft, da sich die Bedeutung einer Lage ändern kann. So können wir im ersten Bezirk wieder eine Zunahme an Wohnungsnutzungen beobachten, die vorher als Büro gewidmet waren. Flexibilität wird in der Zukunft ein wichtiger Wettbewerbsvorteil für die Attraktivität von Städten sein.

DIE AUTHENTISCHE STADT
Viele europäische Städte durchlaufen derzeit einen Wandel. Das Motto heißt: „Zurück in die Städte!“ − in eine funktionierende Stadt mit kurzen Wegen, kultureller Vielfalt, infrastrukturellen Einrichtungen und sozialen Treffpunkten. Es ist zu erwarten, dass sich die Städte umstrukturieren werden. Das Besondere der Stadt wird wieder in den Vordergrund gestellt und nicht die Uniformität. Attraktive Stadtteile werden wieder verstärkt zur Identifikation der Stadt selbst führen und eine hohe Aufenthaltsqualität bieten müssen. Die Städte werden in Zukunft wieder von einer Form an Kleinteiligkeit – dem berühmten Grätzel – geprägt werden und entdecken damit ihre Vielfalt und ihre Einzigartigkeit wieder.
Flexible Hausstrukturen, ob Alt- oder Neubau, sind ideal dafür geeignet, diesen neuen Ansprüchen von Wohnraum, Büro, sozialen Einrichtungen, Geschäfts- lokalen und emissionsfreiem produzierendem Gewerbe gerecht zu werden. Vor allem die Gründerzeithäuser, die aufgrund einer Bauordnung von vor 160 Jahren errichtet wurden, haben in einer sich verändernden Stadt beste Voraussetzungen.
ARCHITEKT DI PETER NAGLER VON NONCONFORM ZT GMBH
"QUALITÄTEN NEU INTERPRETIERT"
DAS NEUE STADTHAUS® ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes zum Thema „Die Stadt 2020“. Die Studie wurde von der Projektgemeinschaft raith nonconform architektur vor Ort gemeinsam mit der TU Wien durchgeführt.
WALTER SENK: Wie beurteilen Sie derzeit den Wohnbau in Wien?
DI PETER NAGLER: Wir haben in Wien einen hochqualitativen Wohnbau, aber er ist leider nur für monofunktionale Nutzungen geeignet – nämlich nur zum Wohnen. Diese Wohnquartiere können keinerlei Urbanität erzeugen, weil in der Monofunktionalität die Durchmischung mit unterschiedlichen Nutzungen und Lebensformen nur eingeschränkt möglich ist.

Warum sind nutzungsoffene Gebäude für die Stadtentwicklung wichtig?
Laut internationalen Studien wird die Reorganisation der Innenstädte einer der größten Zukunftsmärkte sein und da gehören Umnutzung und Neubauten in Baulücken unter dem Thema der räumlichen Nachverdichtung dazu. Ich bin überzeugt, dass nutzungsoffene Gebäude für die Immobilienwirtschaft große Chancen für die Bereiche der städtischen Nachverdichtungszonen sowie in den Stadterweiterungsgebieten bieten, weil diese Gebäude unterschiedlichste Aneignungen und Lebensformen ermöglichen und unsere Städte resilienter machen.
Was war die Idee hinter dem „Neuen Stadthaus“?
Wir haben als Basis die Flexibilität der Gründerzeithäuser genommen und eine neue Gebäudestruktur daraus kreiert. Ziel war es, einen Platz für Wohnen, Arbeiten, Infrastruktur und öffentliche Nutzung in unterschiedlichsten Intensitäten und Zusammenhängen zu schaffen. Und das ist uns gelungen. Das Stadthaus ist im Gesamten umnutzbar, ohne dass die Primärstruktur verändert werden muss. Das Haus kann sich an neue Lebensgewohnheiten der Nutzerinnen und Nutzer anpassen.
Die Erdgeschoßzonen sind Ihnen ein wesentliches Anliegen.
Wir müssen die Nutzung der Erdgeschoßzonen umdenken und neue Konzepte entwickeln – das ist ein internationaler Trend in europäischen Großstädten. Die geplanten hohen Erdgeschoße beim „neuen Stadthaus“ sind der richtige Weg, um diesem Thema genügend Spielraum für kleinteiligere Gewerbe- und Verkaufsflächen zu ermöglichen.
Beim Hauptbahnhof gibt es bereits Bauplätze auf denen die Bruttogeschoßfläche und nicht die Höhe entscheidend ist – eine Chance für das neue Stadthaus?
Wir sind bei diesen Bauplätzen bei den Wettbewerben mit unserem Stadthaus dabei. Wenn man eine lebendige, durchmischte Stadt will, dann muss man zulassen, dass neben dem Wohn- und Bürohausbau nutzungsoffene Gebäudetypologien entstehen können.

ZUR PERSON
DI Peter Nageler: Der Architekt ist Mitgründer und Partner von nonconform architektur vor ort (www.nonconform.at) . Seine Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Projektentwicklung von nutzungsoffenen Gebäudetypologien und städtebauliche Studien oder die räumliche Nachverdichtung von Stadtquartieren. Seit 10 Jahren regelmäßige Jury- und Vortragstätigkeit.
DI MICHAEL BAERT, VORSTAND DER IFA - INSTITUT FÜR ANLAGEBERATUNG AG
"CHANCE FÜR INVESTOREN"
Die ifa - Institut für Anlageberatung AG möchte als Nachfolger des Gründerzeithauses DAS NEUE STADTHAUS® im 10. Bezirk errichten. Obwohl die Qualitäten der klassischen Altbauten für sich sprechen, war es bis dato aus baugesetzlichen Gründen nur möglich, Teilaspekte umzusetzen.
WALTER SENK: Was beeindruckt Sie an den Gründerzeithäusern?
DI MICHAEL BAERT: Es gibt viele Qualitäten, etwa die große Raumhöhe, die Baumaterialien, die hohen Erdgeschoßzonen, die Flexibilität, die Häuser lassen sich technisch leicht nachrüsten. Man kann Altbauten transformieren und neuen Bedürfnissen anpassen. Alles, was man positiv mitnehmen kann, haben wir im Konzept DAS NEUE STADTHAUS® auf Neubauten übertragen.

Werden bereits „neue Stadthäuser“ gebaut?
Es gibt fünf wesentliche Kriterien, die meisten werden derzeit von uns in Teilen umgesetzt. Die Errichtung eines Stadthauses, das alle Kriterien vereint, war bis dato aufgrund der Flächenwidmung noch nicht möglich. Allerdings gab es beim Wettbewerb bei den letzten Grundstücken auf dem Hauptbahnhof-Areal bereits andere Vorgaben, und damit wird die Umsetzung solcher Projekte wesentlich erleichtert. Dort gibt es Grundstücke mit Widmung auf Bruttogeschoßfläche, und es ist nicht mehr die Höhe des Gebäudes das Maß aller Dinge.
Die Investoren hätten aber großes Interesse daran?
Unbedingt. Für einen Investor ist es z. B. durch die strukturelle Offenheit möglich, ressourcenschonend, flexibel unkompliziert und sehr kostengünstig auf geänderte Nutzungsanforderungen zu reagieren. Was gestern eine Wohnung war, kann morgen ein Loft, übermorgen ein Büro sein. Auch steht für eine Vielzahl unserer Investoren nicht die kurzfristige Rendite im Vordergrund, sondern sie denken in langfristigen Werten. Dafür ist diese Form der Häuser ideal. Wir sind auch mit der Politik im Gespräch, damit es in Zukunft mehr Möglichkeiten gibt, solche wertbeständigen Häuser zu errichten. Wir haben uns im 10. Bezirk zwei Grundstücke gesichert, die für das Gesamtkonzept des Stadthauses geeignet wären, und sind zuversichtlich, in Kürze dort in die Umsetzung zu gehen.
Warum ist Flexibilität so wichtig?
Ein Haus sollte so gebaut werden, dass alles möglich ist, was dem Menschen an Nutzungsmöglichkeiten einfällt. Ich denke die kommenden Nutzer werden noch Ideen haben, die wir noch gar nicht kennen, und diesen Raum wollen wir dem Stadthaus geben.

ZUR PERSON:
DI Michael Baert ist Vorstand der auf Bauherrenmodelle spezialisierten ifa Finanzgruppe, die zur Soravia Group gehört. Der gebürtige Belgier hat 1989 in Wien seine Wahlheimat gefunden und ist Spezialist für Immobilienentwicklungs- und ein -abwicklungsmanagement. Im Geschäftsjahr 2014 wurden von der ifa insgesamt 27 Ertragsobjekte fertiggestellt und übergeben – bzw. am Markt platziert.

Walter Senk ist unabhängiger Journalist mit dem Schwerpunkt „Immobilien“ und schreibt für zahlreiche Medien. Außerdem konzipiert er Magazine und entwickelt und betreut Kundenzeitschriften für diverse Unternehmen. Mit seiner Webseite www.immobilien-redaktion.at bringt er die breite und umfassende Welt der Immobilien auf interessante Weise näher.
