Dr. Danielle Spera | Herbst 2015
"Je höher das Stockwerk, desto niedriger die soziale Stellung"
Vom 25. März bis zum 18. Oktober 2015 fand im Jüdischen Museum im Ersten Bezirk in Wien die Ausstellung „RINGSTRASSE. Ein jüdischer Boulevard“ statt. Für die Ausstellung wurde ein immenser Rechercheaufwand geleistet, um die Geschichte der Häuser und der damit verbundenen Familienschicksale auszuleuchten.
OTTO Immobilien sprach mit der Direktorin des Museums, Dr. Danielle Spera.
MARKUS STEINBÖCK: Wie stark war das Interesse an der Ausstellung?
DR. DANIELLE SPERA: Das Interesse an der Ausstellung ist enorm. Wir haben viele Nachkommen der jüdischen Familien, die sich ein Ringstraßenpalais erbauen ließen, recherchiert und mit ihnen Kontakt aufgenommen. Eine Familie kam aus Frankreich zur Eröffnung und auch der Nobelpreisträger Martin Karplus* ist aus den USA gekommen und hat die Ausstellung besichtigt, in der auch über seine Familiengeschichte erzählt wird.
Wie schwierig waren die Recherchen? Grundbücher gibt es wegen des Justizpalastbrandes nur zurück bis 1927?
Das ist richtig, die Grundbücher sind alle 1927 verbrannt, was die Recherchen natürlich erschwert hat. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, Besitzer und Erbauer von Ringstraßenpalais zu recherchieren, z. B. die Bücher des Stadterweiterungsfonds, mit denen man die Erwerber beforschen kann. Natürlich ist dies mit einem immensen Rechercheaufwand verbunden. Für den Katalog des Jüdischen Museums Wien hat Georg Gaugusch diese Arbeit geleistet. In umfangreichen Tabellen kann man sich darüber informieren, welche Grundstücke von jüdischen Bauherren erworben wurden − womit der Katalog auch zu einem einzigartigen Nachschlagewerk wird und Auskünfte bereit hält, die bis dato nur durch mühsame Archivarbeit erlangt werden konnten.
Das Palais Todesco wird in der Ausstellung besonders berücksichtigt. Wie kam es dazu?
Das Palais Todesco ist ein beeindruckendes Bauwerk, das im Bewusstsein der meisten Wienerinnen und Wiener noch immer als ehemalige ÖVP-Zentrale ver- haftet ist. Dass das Palais von einer zur Gründerzeit sehr bekannten und bedeutenden Familie erbaut wurde, war vielen nicht bekannt. Das wollten wir mit der Ausstellung ändern: Wir wollten jene Familien, die so Unglaubliches für diese Stadt geleistet hatten und heute komplett in Vergessenheit geraten sind, der Öffentlichkeit vorstellen. Das Palais Todesco kommt tatsächlich mehrmals in der Ausstellung vor. Es ist ein architektonisches Prachtstück entlang der Ringstraße, von Ludwig Förster und Theophil Hansen geplant. Carl Rahl gestaltete die prächtigen Deckengemälde des Palais, die sich genauso wie die Karyatiden der Außenfassade an der griechi-schen Antike orientieren. Die Familiengeschichte der Todesco ist sehr interessant. Der Stammvater, Eduard Todesco, hatte seinen Wohlstand durch den Aufbau der Textilfabriken in Marienthal erlangt. Seine Frau, Sophie, gab berauschende Feste im Palais. Sie war eine der bedeutendsten Salonièren ihrer Zeit. Ihre Tochter Anna (später verheiratete Lieben) dagegen, hat sich in dieser Rolle nicht eingefunden. Sie litt unter starken Depressionen und Neurosen und ist als Cäcilie M. als eine der berühmtesten Patientinnen Sigmund Freuds in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangen. Ihre Gedichte, die posthum von Ferdinand von Saar veröffentlicht wurden, sind heute zu Unrecht vergessen – auch diesen haben wir in der Ausstellung einen Platz gegeben.

War Restitution in der Recherche ein Thema bzw. sind dazu neue Fakten aufgetaucht?
Natürlich sind vor allem durch die unterschiedlichen Katalogbeiträge neue Fakten zu Tage getreten. Wir haben versucht, verschiedene Familienschicksale zu beleuchten. Damit geht natürlich auch die Frage nach erfolgten oder nicht erfolgten „Arisierungen“ und Restitutionen einher. Auch hier gab es unterschiedliche Fälle: Die Familie Todesco verkaufte ihr Palais bereits 1935. Das Palais Ephrussi war eines der ersten, das „arisiert“ wurde. Es wurde sehr bald nach dem Krieg restituiert – natürlich war der Wert des Gebäudes zu jener Zeit deutlich gemindert. Die Geschichte des Doppelpalais der Familie Przibram ist nach heutigem Verständnis unfassbar. Das Palais wurde „arisiert“, 1947 erhielt die Familie ein Palais zurück, das zweite verblieb beim „Ariseur“.
Liege ich falsch, wenn ich die Ringstraße des Jahres 1860 und später überzeichnet als Adresse für Neureiche sehe, während der Adel, die Großgrundbesitzer, d. h. das alte Geld in der Altstadt gesessen sind? Im Katalog wird auch von der „ersten Gesellschaft“ geschrieben.
Für Juden war es erst ab 1860 möglich, Grund und Boden zu besitzen, d. h. für sie war die Ringstraße nun die geeignete Prachtstraße, um einen prestige-trächtigen Wohnsitz zu erbauen. Viele erlangten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Adels-stand − wie auch viele Nicht-Juden in dieser Zeit. Diese neu Nobilitierten bildeten die sogenannte zweite Gesellschaft, sie strebten nach einer dem Adel höchst ähnlichen Lebensweise.
Das Palais ist als Gesamtkunstwerk gesehen und genutzt worden. War es nicht mitunter sehr protzig? Die „lebenden Bilder“ als Charity-Events ähneln stark ähnlichen Events der heutigen Seitenblicke-Gesellschaft, oder?
Für unsere heutigen Verhältnisse wirken die Palais und vor allem ihre Inneneinrichtungen vielleicht überladen, doch das war der Trend der Zeit. Man wollte ja auch zeigen, was man alles erreicht hatte. Die „Charity- Events“ waren gesellschaftliche Ereignisse, da die damalige Zeit, wenig Zerstreuung bot. Im Judentum ist Solidarität und Barmherzigkeit eine Pflicht, daher gab es viele verschiedene Wohltätigkeitsvereine, manche arbeiteten mehr im Hintergrund und näher mit den Bedürftigen, andere veranstalteten lieber Festivitäten, mit denen sie vielleicht mehr Spenden lukrieren konnten.

Der Verkauf der Bauparzellen war für die Sanierung des Budgets dringend notwendig. Trotzdem hatte ich bei der Ausstellung und beim Lesen des Katalogs eher den Eindruck, dass die Käufer dem Kaiser gegenüber eher dankbar als stolz auftraten. Stimmt dieser Eindruck?
Vor allem die jüdischen Käufer waren dem Kaiser gegenüber sehr dankbar und blieben bis zum Ende der Monarchie kaisertreu. Sie meldeten sich freiwillig für den Kampf im Ersten Weltkrieg und zogen mit großem Enthusiasmus für Kaiser und Vaterland auf die Schlachtfelder. Die Treue zum Kaiser ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass es Kaiser Franz Joseph war, der die Juden mit den übrigen Bürgern der Monarchie gleichstellte und sich von der antisemitischen Politik seiner Vorgänger abwandte.
Waren die Parzellen im Vergleich teuer? Nicht alle Käufer konnten sofort zahlen. Manche haben in Raten an den Stadterweiterungsfonds bezahlt.
Natürlich waren die Parzellen nicht im Sonderangebot zu erhalten, das sollten sie ja auch gar nicht sein. Es sollte etwas bedeuten, wenn man sich ein Haus entlang der Ringstraße leisten konnte.

Mit den Häusern wurde eigentlich kaum spekuliert, dh Käufe und schnelle Verkäufe waren selten, man hat gekauft um langfristig zu besitzen. Gibt es dafür eine Erklärung? Heute läuft es bekanntlich ganz anders.
Die Parzellen entlang der Ringstraße wurden vor allem zum Eigenbedarf erworben, da es ja auch ein prestigeträchtiger Platz war und man dort wohnen wollte.
Stimmt es, dass die Bauherren-Familien wirklich nur die Beletage bewohnten? Mit Ausnahme der Familie Lieben, die schon damals in einem Penthaus residierte.
Es war üblich, in der Beletage zu wohnen, und bis auf die Familie Lieben hat sich unseres Wissens nach keine andere Familie dieser Tradition widersetzt. Allgemein galt: Je höher das Stockwerk, desto niedriger die soziale Stellung. Das heißt, in den Dachgeschoßwohnungen wohnte meist das Dienstpersonal, im Erdgeschoß waren sehr häufig Geschäfte eingemietet.
Die Ausstellung zeigt, dass die Ringstraße eigentlich nie eine Einkaufsstraße war. Was ist an der heutigen Ringstraße anders als damals? Gibt es überhaupt noch eine Verbindung?
Zu Beginn der Ringstraßenära war der neue Prachtboulevard deutlich belebter als heute, sonntags promenierte man hier und verstärkte in dieser Weise seine sozialen Netzwerke. Das hat sich sicherlich geändert, heute nützt man andere Kanäle. Auch heute spielt sich auf der Ringstraße noch ein bedeutender Teil der Wiener Kultur ab und auch als politische Bühne nimmt die Straße einen wichtigen Platz ein, sei es bei Kundgebungen, Festen oder durch die Legislative im Parlament und Rathaus.

Zur Person
Dr. Danielle Spera: Studium der Publizistik und Politikwissenschaft, 1978 bis 2010 Journalistin, Reporterin, Moderatorin und Redakteursrätin im ORF, 1987/88 ORF-Korrespondentin in Washington. Seit 2010 Direktorin des Jüdischen Museums Wien. Seit 2013 Universitätsrätin an der MUI, Präsidentin von ICOM-Österreich, 1991 und 2007 Romy-Preisträgerin, 1990-2002 Lektorin am Institut für Publizistik der Universität Wien, Autorin zahlreicher Bücher und Beiträge zu zeitgenössischer Kunst, jüdischen Themen und bei der Zeitschrift NU.
