Ein Zinshaus-Gewebe durchzieht die Stadt
Gastbeitrag von Dr. Andreas Lehne
Die Beratungsfirma Mercer LLC erstellt jährlich eine Untersuchung über die Lebensqualität von Städten („quality of living worldwide city ranking“) wobei Wien 2012 wieder an erster Stelle lag.
Beitrag von Herbst 2013
In dieser Studie spielt zwar die Wohnungssituation bei der Bewertung eine Rolle, die ästhetische Seite des Stadtbildes stellt jedoch kein Kriterium dar – dabei hätte Wien hier sogar zusätzlich mit UNESCO-Welterbeschutzgebieten und damit mit einem weiteren herausragenden Pluspunkt aufzuwarten, welcher von einem hochrangigen internationalen Gremium bescheinigt wurde.
Doch welche Gestaltqualität zeichnet nun die Wiener Stadtlandschaft aus? Gibt es ein spezifisches Element, das seine Bauphysiognomie wesentlich charakterisiert? Dieses Element ist rasch identifiziert: Das Wiener Gründerzeit-Zinshaus. Hier lässt sich trotz der bereits im Kapitel „Die Geschichte des Zinshauses“ erwähnten Differenzierungen und einer markanten stilistischen Entwicklung der Fassadengestaltung – wohl auch durch die rigiden Bauordnungen bedingt – ein erstaunlich stabiler Grundtypus feststellen.
Für die Außenerscheinung ist jedenfalls die meist symmetrische, regelmäßig durchfensterte, durch Gesimse horizontalisierend gegliederte Putzfassade, die gerade abgeschlossen wird, das wesentliche gemeinsame Merkmal (Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel). Wichtiger als diese Charakteristika ist allerdings die Tatsache, dass sich dieses Zinshaus meist dem Straßen- bzw. Zeilenverband unterordnet. Nicht das einzelne Zinshaus als Individuum wird wahrgenommen sondern seine regelmäßige Reihung. Zwar gibt es zahlreiche Viertel und Straßenzüge (vor allem die großen radialen Straßen) an denen die Zinshäuser unterschiedlicher Perioden bunt gemischt auftreten, es gibt aber auch Bereiche in den ehemaligen Vorstädten und Vororten wo große Grundstücke einheitlich parzelliert und innerhalb relativ kurzer Zeit verbaut wurden, sodass dort Straßen und Plätze bisweilen einen sehr geschlossenen Eindruck vermitteln.
ZINSHAUS ALS GELDANLAGE SEIT DEM BIEDERMEIER
Der Grundtypus des Wiener Zinshauses hatte sich schon im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert herausgebildet, wobei vor allem die Klöster durch die Aufschließung ihrer (Garten-)Gründe und den Bau großer Wohnhausanlagen bahnbrechend wirkten. Spätestens im Biedermeier wurde dann das Zinshaus zur beliebten Anlageform. Kapitalkräftige Investoren entdeckten den Wohnbedarf der wachsenden Bevölkerung als lukrative Einkommensquelle. Was die stilistische Entwicklung betrifft, bedeutete das Revolutionsjahr 1848, mit dem die Historiker die „Gründerzeit“ beginnen lassen, keine wesentliche Zäsur.
Für die Mitte des 19. Jahrhunderts war zunächst ein sehr einfacher, weitgehend schmuckloser Stil charakteristisch gewesen, ab den späten 1850er und 1860er Jahren beginnt sich dann ausgehend von den Brüstungsfeldern unter den Fenstern eine kleinteilige Ornamentik durchzusetzen, die aber noch ganz flach bleibt. Die Fenster zeigen einfache, nach oben hin noch schlichter werdende Rahmungen, Hausecken werden meist abgeschrägt ausgebildet, eventuell durch einen Erker akzentuiert.


AB 1870 DOMINIERT DER "NEU-WIENER-RENAISSANCE-STIL"
Unter dem Einfluss der Ringstraßenarchitektur wird dann ab etwa 1870 der Stil der sogenannten Neu-Wiener-Renaissance für das Wiener Zinshaus verbindlich, ja fast obligatorisch. Die Fassade gewinnt an Monumentalität und Plastizität, die Fensterebene tritt zurück, das Erdgeschoß zeigt nun meist eine kräftige Rustika, das erste und zweite Obergeschoß sind häufig zu einer Hauptzone zusammengefasst, über dem letzten Geschoß schließt ein breites vorkragendes Kranzgesims den Fassadenspiegel ab. Die Fenster sind von kräftigen, schattenden Giebeln bekrönt, die oft von seitlichen Säulen oder Pilastern getragen werden (Ädikularahmungen). Bei großen stattlichen Bauten sind die Eckachsen durch seichte Vorsprünge (Risalite) betont und können teilweise bereits durch kleine Turmaufsätze akzentuiert sein.
Die Spätgründerzeit, ab etwa 1890, bringt eine größere Gestaltungsfreiheit, es gibt mehr Spielraum bei der Wahl der Ornamentik, wo barocke oder auch altdeutsche Formen, ab 1900 auch Jugendstilmotive eingesetzt werden. Hie und da werden nun auch asymmetrische Fassadenlösungen gewählt, die Putzornamentik kann durch Klinker- oder Fliesenoberflächen ergänzt werden. Die Ecken gestaltet man nun häufig durch eingebundene Rundtürme tw. mit Kuppelbekrönungen betont. Um 1900 verändert sich aber auch das Verhältnis vom Fenster zur Wand. Die Fenster werden breiter, die Wand kann zu Erkern vorschwingen, abgerundete Ecken werden zu einem beliebten Motiv. Bisweilen wird die bis dahin immer noch vorherrschende, an der architektonischen Instrumentalisierung ablesbare Hierarchisierung der Stockwerke aufgegeben, da Liftanlagen nun ein einheitliches Zinsniveau ermöglichen.
ZINSHÄUSER WERDEN ZU ZINSHAUS-BLÖCKEN
Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück, dem Primat der Zeile vor dem Einzelobjekt als Individuum. Tatsächlich gab es seit der Biedermeierzeit immer wieder Versuche, die oft als eintönig betrachtete Addition zu durchbrechen, indem man die Häuser in symmetrische Beziehung zueinander setzte, etwa in dem ein Haus mit übergiebelter Fassade von zwei analog gestalteten gerade abgeschlossenen Häusern flankiert wird. An der Ringstraße hat man dieses Zusammenschließen von einzelnen Miethäusern zu großen einheitlichen gestalteten Blöcken dann in großem Maßstab vorexerziert: Vorreiter war hier der gegenüber der Oper situierte „Heinrichshof“ von Theophil Hansen, bei dem drei Doppelzinshäuser zu einer monumentalen Einheit zusammengeschlossen waren.
Interessant erscheint, dass um 1900 die Avant-Garde-Architekten, allen voran Otto Wagner, von dieser Idee wieder abgekommen sind. Der notwendige Rhythmus, die ästhetisch wichtige Zäsuren im homogenen Straßenbild sollten weder durch geplante Unregelmäßigkeiten im Straßennetz erfolgen, wie dies von Wagners Gegenspieler Camillo Sitte vorgeschlagen worden war, noch durch eine individuelle Gestaltung der einzelnen Zinshausbauten, sondern nur durch das städtebaulich gezielte Platzieren von Monumentalbauten im Straßenraster.
Der Wagner-Schüler Leopold Bauer hat diese Idee 1898 in dem Aufsatz „Die alte und die neue Richtung in der Baukunst“ vertreten und damit gleichzeitig das Wesen und das Geheimnis des Wiener Zinshauses formuliert: „Nicht die Säulen, nicht die Fenster mit carrikiertem Tympanon, sind die Grundlagen unserer neuen Architektur, sondern das Haus selbst ist ein elementarer Begriff: denn das Kunstwerk heißt Straße … Jedes Werk, das eine sehr große rhythmische Wiederholung erheischt, muss notwendig ungemein einfach sein. Ein Rococogitter von 100 Meter Länge wirkt lächerlich. Je höher die Organisation, desto einfacher müssen die Mittel zur Hervorbringung der Wirkung sein. So kommt es auch, dass das Wagnersche Zinshaus im Aufbau nahezu naiv einfach ist – weil es das Glied einer Kette ist, die erst die Zukunft vollenden wird … Das Wagnersche Zinshaus (hat) alle Eigenschaften eines neuen Architekturelementes … nämlich relative Vollkommenheit und unbegrenztes Combinationsvermögen.“
Otto Wagner hat dies 1911 in seiner Vision „Die Großstadt“ visualisiert. Ein wohlgeordnetes Häusermeer, dass sich nach einem einheitlichen Schema fast unendlich ausbreiten kann, bei dem die einzelnen Wohnhäuser zwar eine gewisse Varianz zeigen, sich sonst aber ganz der übergeordneten Struktur unterordnen. Wagner hat mit dieser Architekturvision eigentlich nur etwas bereits Vorhandenes weitergedacht. Das Wiener Zinshaus als Grundtypus, der, beliebig variiert, das Gewebe, die Grundtextur der Stadt ausmacht.

Zur Person:
Dr. Andreas Lehne Kunsthistoriker und seit 1977 im Bundesdenkmalamt tätig. Lehrtätigkeit an der TU Wien und der Universität für angewandte Kunst, Autor zahlreicher Publikationen zur Kunst und Architektur des 19. und 20. Jahrunderts.
