Geheimnisvolle Unterwelt von Wien: Unbekannte Keller − rätselhafte Gänge – verborgene Tunnel
„Wien sitzt auf einem Schatz, den es noch nicht gehoben hat“. So bezeichnet die Wiener Stadtführerin und Buchautorin Gabriele Lukacs das Labyrinth an Tunneln und Gängen, das sich unter den Häusern dieser Stadt ausbreitet und die bis zu vier Stockwerke tiefen Keller miteinander verbindet.
Beitrag von Frühjahr 2017
Die Stadtführerin Gabriele Lukacs ist Expertin für ein Wien, das kaum jemand kennt – für das unterirdische, das geheimnisvolle Wien. Für ein Wien der unbekannten Keller, rätselhaften Gänge und verborgenen Tunnel. Die Autorin hat sich unter die Erde begeben, um den Geheimnissen dieser unterirdischen Welt nachzuspüren.
IN WIENS ERDREICH VERSCHWINDEN NICHT NUR BÄUME, SONDERN AUCH MENSCHEN, DIE VERBORGENE KELLER, GEWÖLBE UND GÄNGE ERFORSCHEN
Warum vor etlichen Jahren eine sechs Meter hohe Pappel an der Wiener Ringstraße buchstäblich im Boden versank, wurde nie wirklich geklärt. Dieser rätselhafte Zwischenfall holte jedoch die Geschichten und Legenden wieder hervor, die im Gedächtnis der Stadt gespeichert sind: Nämlich jene von riesigen unterirdischen Keller- und Katakomben-Systemen, die den Untergrund der gesamten Stadt wie einen Schweizer Käse durchlöchern. Wie alt diese sind, weiß niemand genau zu sagen. Pläne der alten Keller sind nämlich selten vorhanden. Vermutlich stammen diese oft 4 bis 6 m hohen Keller aus dem Mittelalter, als die Kirchen- und Klostergrüfte erbaut wurden und Wien eine Weinhandelsmetropole wurde. Jedes Haus der Altstadt soll damals einen Weinkeller besessen haben. Wann jedoch damit begonnen wurde zu graben und wann der zweite, dritte und vierte Keller hinzukam, ist nach so vielen hundert Jahren Bautätigkeit fast nicht mehr eruierbar. Fakt ist, dass die Keller der Bundeshauptstadt während des Zweiten Weltkriegs untereinander verbunden waren und den Bewohnern als Luftschutzräume dienten. Man konnte also unter- irdisch von einem Ende der Stadt ans andere gelangen. Nach 1945 wurden die Verbindungsmauern verschlossen, sodass heute nur mehr Bruchstücke dieses einst riesigen unterirdischen Labyrinths vorhanden sind.

DAS KLOSTER DER FROMMEN FRAUEN
1, Laurenzerberg 2
Einer der sehenswertesten Keller befindet sich unter dem Laurenzerberg, zwischen dem Donaukanal und dem ältesten Teil der Stadt gelegen. Enorme Gewölbekeller, mehrere Tausend Quadratmeter groß, erstrecken sich auf vier Stockwerken bis zu 11,5 m unter dem ehemaligen, im Jahr 1293 gegründeten Laurenzerinnen-Kloster. Das Gebäude wird von vier Straßenzügen umschlossen, dem Fleischmarkt, dem Laurenzerberg, dem Auwinkel und der Postgasse. Von dort führen die Verbindungsgänge zum Dominikanerkloster, zum ehemaligen Studenten-viertel der alten Universität und vermutlich sogar bis zum Stephansdom. Warum die frommen Frauen des Klosters unterirdisch zur Kirche, zum Männerkloster und zu den Studenten gehen mussten, ist in der Chronik nicht verzeichnet. Hunderte Meter Gänge in den Wiener Lehmboden zu graben, ist ein aufwendiges Unterfan-gen. Um geschützt vor Regen und Schnee trockenen Fußes Kirchen und Klöster zu erreichen? Man darf darüber spekulieren. Bereits 1586 stellte eine Visitation skandalöse Zustände fest. Nicht nur hatten die Nonnen Weinberge, Äcker und silberne Gefäße verscherbelt, sondern „sich mit ungewassertem Wein bezecht, lutherische Bücher gelesen und mit liederlichen Studen-ten gesungen, gezecht und gespielt.“ Im Jahr 1783 wurde das Kloster von Kaiser Joseph II. aufgelöst und das Gebäude in den Staatsbesitz übernommen. Unter anderem befand sich die österreichische Post bis vor wenigen Jahren in diesem Haus. Die Keller blieben bis heute bestehen und sind ein beredtes Zeugnis für die unterirdischen Verbindungsgänge unbekannten Alters und Zwecks.
WIEDERENTDECKUNG EINES VERGESSENEN THEATERS
1, Annagasse 3
Es ist erstaunlich, wie viele kommunale Einrichtungen, Gewerbebetriebe oder private Bühnen sich einst in den Untergeschoßen der Wiener Gründerzeithäuser befanden und heute zur Gänze vergessen sind. Im Jahr 2008 konnte im Wiener Stadtzentrum eine seltene und darum umso erstaunlichere historische Entdeckung gemacht werden. Im Zuge der Renovierung von leer stehenden Kellerräumlichkeiten in der Annagasse 3 entpuppte sich ein heruntergekommener Diskokeller als der verloren geglaubte Theatersaal eines ehemaligen Boulevardtheaters der Jahrhundertwende. Und zwar jenes Theaters, das als das beste Revuetheater Wiens galt. Dort, wo man einst glanzvolle Feste feierte, Hans Moser seine ersten Auftritte hatte und Fatty George nach dem Zweiten Weltkrieg das erste Jazzlokal der Stadt eröffnete, lag eine der schönsten Theaterbühnen Wiens seit mehr als einem halben Jahrhundert im Dornröschenschlaf.
Wach geküsst wurde die schlafende Prinzessin von einem jungen Unternehmer, der in den mehr als 1.000 m² großen Kellerräumen einen repräsentativen Verkaufsraum für seinen „Art & Style Shop“ plante. Völlig überraschend fand er hinter der vermoderten Holzverkleidung der ehemaligen Discothek „Montevideo“ und späteren „Piano Bar“ die Wandtapeten und Stuckelemente eines Ballsaales. Überraschend deswegen, weil man dachte, dass die Einrichtung zerstört wäre und nichts mehr an die alten Glanzzeiten erinnern würde. Die diversen Jazzclubs, Discos und Bars hatten jedoch nichts in Umbauten investiert und dadurch zum Glück die prunkvolle Architektur erhalten. Der neue Mieter erkannte den kunsthistorischen Wert und entschied sich für dessen Erhaltung. Gemeinsam mit dem Bundesdenkmalamt restaurierte er in mehrjähriger Arbeit dieses Architekturjuwel der Jahrhundertwende. Seit 2011 gibt es hier wieder ein Theater, das „Fashion Theatre“ mit Bühne, Bar und Modekollektionen.
Der Annahof
Der Annahof hat eine reiche Geschichte. Im Jahr 1418 stiftete eine Adelsfamilie ein Pilgerspital samt Herberge in der Annagasse 3. Hunderte Jahre lang war es Klosterbesitz. Im 18. Jahrhundert zog dort eine „Normalschule“ ein, die unter anderen auch Franz Schubert und Franz Grillparzer besuchten. Im Keller gab es lange Zeit eine Gastwirtschaft. Am 1. März 1840 eröffnete das „Neue Elysium“ im Keller des Annaklosters. Dieses weitläufige Vergnügungslokal bot eine „unterirdische Wanderung durch die Welt“ und war DIE Attraktion im Wien des Biedermeiers. Im Jahr 1894 errichteten die bekannten Wiener Baumeister Ferdinand Dehm und Franz Olbrich nach Plänen der Theater-Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer den neuen Annahof als Wohn- und Veranstaltungsgebäude. Sie verwendeten Stilelemente der Neogotik, Neorenaissance und des Neobarocks. Im mehrstöckigen Keller und Souterrain integrierten sie das Revuetheater „Tabarin“ – einen prunkvollen Ballsaal nach Pariser Vorbild. Er bot Platz für 2.500 Personen und war Schauplatz glanzvoller Feste der Wiener Hautevolee. Ab 1910 wurde der Saal durch Einziehung einer Decke unterteilt und zum Kabaretttheater umfunktioniert. 1911 trat hier erstmals Hans Moser auf. Hier feierte er seine ersten Schauspielerfolge. 1924/25 zog das Robert-Stolz-Revuetheater ein. Die Kriegsjahre bescherten dem viel besuchten Etablissement das Ende.

Die legendäre „Tenne“
Nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete der bekannte Jazzmusiker Fatty George das erste Jazzlokal Wiens in den umgebauten Kellerräumlichkeiten. Die wertvollen Tapeten verschwanden hinter Holzverkleidungen, die Theaterlogen wurden zu Sitznischen, die Bühne zur Tanzfläche für das begeisterte Publikum. In den 1960er-Jahren wurde dann daraus die berühmte Discothek „Tenne“, der In-Treffpunkt der Wiener Schickeria. Damals wurde auch jene unansehnliche Betonzwischendecke eingezogen, die die prachtvollen Fin-de-Siecle-Stuckverzierungen an der Decke verbarg. Die „Tenne“ schloss im April 2004. In die Räume, wo die Bambis, Udo Jürgens und Gus Backus ihre Evergreens geschmettert hatten, zog eine Burger-King-Filiale ein. Auch diese verbarg unter neon-grüner und orange-roter Wandbemalung die einstige Pracht des Architekturjuwels. Einzig eine wandfüllende Fotografie des alten Theatersaales im Eingangsbereich des Fastfood-Tempels erinnert noch an den alten Glanz der Aufführungen im Kellertheater des Hauses.

Boulevardtheater im Keller
Am Tag des Denkmals 2010 konnten die Besucher das erste Mal nach mehr als 50 Jahren hinter die Kulissen einer längst vergangenen und leider vergessenen Epoche der österreichischen Unterhaltungskultur der Zwischen- und Nachkriegszeit blicken. Im Souterrain und Keller des Annahofes können nun der wiederentdeckte Theatersaal in der Ausstattung von 1910 sowie der Bühnenraum und der Orchestergraben besichtigt werden.
Buchtipp

„Geheimnisvolle Unterwelt von Wien“ 244 Seiten, Pichler Verlag, € 18,00

Zur Person
Mag. Gabriele Lukacs lebt und arbeitet als Wander-, Kraftplatz- und Stadtführerin in Wien und Niederösterreich. Ihre beliebten „Mysterytours“ sind bereits zum Markenzeichen geworden.Sie ist als Autorin für deutschsprachige Print- und Online-Magazine tätig. Seit 2008 erschienen zahlreiche Bücher von ihr im Styria Verlag über das unbekannte, unheimliche und unterirdische Wien und Niederösterreich.
