Das historische Wien - 10. Bezirk
Favoriten
Nach unserem historischen Spaziergang durch mehrere kleinere Grätzel dieser Stadt besuchen wir in dieser Ausgabe nun den bevölkerungsreichsten Wiener Gemeindebezirk, der mehr ist, als nur der vielzitierte „Arbeiterbezirk“: Favoriten.
Beitrag von 2013
Favoriten ist ein vielfältiger Bezirk, der zurzeit von einer enormen Bautätigkeit geprägt wird. Während sich im nördlichen Teil das historische Wohngebiet ausbreitet, zumeist rasterförmig angelegte Wohnblöcke, die den vielen zugewanderten Arbeitern zu Zeiten der Monarchie als Unterkunft dienten, springen im Westen und Süden des Bezirks zwei architektonisch interessante Gebäude ins Auge: der in der Zwischenkriegszeit entstandene George-Washington-Hof als markanter Gemeindebau und der erst vor zwölf Jahren errichtete Business Park Vienna mit den beiden Hochhäusern, die jeder Wien- Besucher schon bei der Südeinfahrt erblickt. Fast unscheinbar dagegen das um vierzig Jahre ältere „Philipshaus“ an der Triester Straße, das dennoch als architektonisches Musterbeispiel der klassischen Moderne gilt.
Dies alles wird bald überstrahlt werden von den imposanten Gebäuden, die entlang des Gürtels im Bereich des Belvedere errichtet werden. 2015 soll der neue Hauptbahnhof fertig sein, um den gleichzeitig auch zwei völlig neue Bezirksteile entstehen: Das „Quartier Belvedere“ und das „Sonnwendviertel“. Nicht nur die ÖBB und die Erste Bank bauen hier ihre neuen Unternehmenszentralen, das Gebiet wird auch zu einer attraktiven Wohngegend.

Wer würde glauben, dass sich direkt an das dicht bebaute Gebiet südlich ein grünes Paradies auftut? Das Erholungsgebiet am Wienerberg, Felder, Weingärten, Heurigenlokale, der Volkspark, das Sommerbad und schließlich der „Böhmische Prater“ prägen hier das Bild des Bezirks. Seit 1882 schon existiert diese Vergnügungsstätte des „kleinen Mannes“ und der Laaer Berg bietet tatsächlich für jeden etwas. Und das Kurbad Oberlaa ist diesem dicht besiedelten Bezirk adäquat. Dass Oberlaa mit seinen Gemüsefeldern auch Nahrungslieferant für die Millionenstadt ist, erfahren wir ebenfalls bei unserer Fahrt durch Favoriten. Benannt ist der Bezirk übrigens nach dem einstigen kaiserlichen Jagdschloss „Favorita“, das aber heute zum 4. Bezirk gehört und das Theresianum und die Diplomatische Akademie beherbergt.
Die Wienerberger Ziegelfabrik war der indirekte Geburtsort einer gesellschaftlichen Revolution um die Jahrhundertwende, die oft als letzter Abglanz der sterbenden Monarchie bezeichnet wird. Tausende Arbeitssuchende aus den böhmischen Ländern ersehnten hier eine Besserung ihrer katastrophalen Lebensverhältnisse, der Bezirk „explodierte“ geradezu: Von 22.340 Einwohnern 1869 auf 159.000 im Jahr 1910! Für so viele Zuwanderer gab es keinen Wohnraum. Das Elend der Wienerberger Ziegelarbeiter veranlasste den Arzt Viktor Adler zur Gründung einer Massenbewegung, die sich schließlich „Sozialdemokratisch“ nannte. Hier also war die Wiege der Arbeiterbewegung, die ihre Hochblüte in der Zwischenkriegszeit unter dem bekannten Namen „Das Rote Wien“ erlebte. Nach dem 2. Weltkrieg nahm die Bevölkerungszahl weiter zu – im Gegensatz zu mehreren Innenstadtbezirken. Denn es gab genügend Flächen für Neubauten, um den enormen Wohnraumbedarf zu befriedigen.
Geheimtipp
Das Museumshaus „Domus Devomari“ und die Johanneskirche in Unterlaa. Im Museum sind urgeschichtliche, römerzeitliche und mittelalterliche Fundobjekte ausgestellt. Grabungsdokumentationen und Modelle ergänzen das Bild von der historischen Entwicklung dieses Ortes. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstand eine Johanniter-Niederlassung mit Hospital. Das nach jeder Verwüstung wiederhergestellte Gebäude gilt als eine der ältesten Kirchen im heutigen Wiener Stadtgebiet.
10., Favoriten
Fläche in ha1: 3182,23
Einwohner2: 182.595
Bevölkerungsdichte3: 5.738
Bevölkerungsentwicklung4: 1,91%
Gebäude5: 13.503
Zinshäuser6: 863
Zinshausdichte7: 6%
1 Quelle: Stadt Wien (MA 41), Flächen der Gemeindebezirke 2012 (Stand 1.9.2012)
2 Quelle: Statistik Austria, Wohnbevölkerung zu Quartalsbeginn 2013
3 Quelle: eigene Berechnung, EW/km²
4 Quelle: eigene Berechnung, Vergleich zum Jahr 2012
5 Quelle: Statistik Austria, Gebäude- und Wohnungszählung 2001
6 Quelle: Kulturgüterkataster der Stadt Wien (MA 19), eigene Erhebungen, Grundbuch (B-Blätter)
7 Quelle: eigene Berechnung, Gebäudebestand / Zinshäuser, gerundet

Der Autor
Prof. Hans Werner Scheidl: Jahrgang 1944, arbeitete von 1965 bis 2009 als Redakteur der Wiener Tageszeitung „Die Presse“. Heute ist der Zeithistoriker und Buchautor freier Journalist.
