Das historische Wien - 16. Bezirk
Wo der Bürgermeister wohnt und das kühe Blonde frisch gezapft wird
Knapp 100.000 Personen wohnen im 16. Gemeindebezirk, der von der Arbeiterschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert geprägt wurde. Aus einer agrarisch genutzten Gegend wurde so über die Jahrzehnte ein dicht bebautes Wohngebiet.
Beitrag von Herbst 2013
Der Ottakringer Bach hat dem Bezirk, der 1892 zu Wien kam, bis zum heutigen Tag sein Gesicht gegeben. Was kaum jemand weiß: Man kann seinen Verlauf noch heute entlang der Thaliastraße weiter an der Lerchenfelderstraße bis zum Minoritenplatz und zum Tiefen Graben verfolgen. Die Bebauung des Bezirkes weist große Unterschiede auf. So befindet sich in Gürtelnähe ein dicht bebautes, schachbrettartiges Wohnviertel mit zahlreichen Gründerzeit-Zinshäusern, während sich um die Vorortelinie, das Kleingewerbe mit seinen Werkstätten ansiedelte. Etwas höher, schon gegen den Stadtrand hin gelegen, erstreckt sich ein Villenviertel.
Landwirtschaft gibt es heute überhaupt nicht mehr, auch der früher durchaus bedeutende Weinbau ist verschwunden, fast die Hälfte der Bezirksfläche ist dicht verbaut. Denn es wohnten schon einmal viel mehr Menschen in Ottakring: Um 1910 waren es 179.000, natürlich hauptsächlich Arbeiter, die aus allen Kronländern der Monarchie gekommen waren, um hier Arbeit und Zukunftsperspektiven zu suchen. Die Gewerbebetriebe lockten sie an, aber die Wohnverhältnisse waren, wie in ganz Wien, katastrophal.
Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war daher vom boomenden sozialen Wohnbau geprägt. Zwischen 1922 und 1934 wurden in Ottakring 28 Gemeindebauanlagen mit 4.517 Wohnungen errichtet, die die prekäre Wohnsituation im Bezirk deutlich milderten. Unter den Neubauten war auch die mit 1.587 Wohnungen größte Wohnhausanlage, der „Sandleitenhof“. Doch dann kam die Wirtschaftskrise zum Beginn der 1930er Jahre, das Elend begann von neuem, zeitweise waren mehr als 50 Prozent der Arbeitswilligen arbeitslos. Kein Wunder, dass der sozialdemokratische Februaraufstand 1934 gerade hier zu schweren Kämpfen führen musste. Der Rückzug der „roten“ Schutzbündler aus Sandleiten auf Grund der Übermacht der Exekutive verschonte zumindest diese Wohnanlage.
Nicht nur die „Österreichische Tabakregie“ hatte in Ottakring eine bedeutende Fabrik, auch Herlango produzierte hier und Julius Meinl röstete Kaffee. Aber auch die Brauerei-Industrie ließ sich hier nieder. Es war Heinrich Plank, ein Müllermeister, der 1837 die heutige Ottakringer Brauerei begründete. Die aus Lundenburg (Mähren) stammenden Cousins Ignaz und Jakob Kuffner bauten dann den Betrieb zu einer Großbrauerei aus, Ignaz bekam, wie damals viele Großindustrielle, das Adelsprädikat verliehen. Heute ist das börsennotierte Unternehmen die einzige Brauerei in privatem Besitz mehrerer Familien.

Apropos Kuffner: Moriz v. Kuffner, Sohn und Erbe von Ignaz Kuffner, konnte es sich leisten, ab 1884 den Bau und Betrieb der nach ihm benannten Sternwarte zu finanzieren, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts als eine der bedeutendsten Observatorien der Monarchie galt. Sie ist auch heute noch eine Sehenswürdigkeit.
Was gibt es hier noch zu bewundern? Zweifellos die Kornhäusl-Villa, ein klassizistisches Landhaus, 1810 erbaut und in unseren Tagen fast schon abbruchreif. Als Teil eines modernen Wohnbauprojekts wurde sie gerettet und saniert. Und – wie schon erwähnt – die zahllosen Gründerzeithäuser, die durch verkehrsberuhigte Zonen immer interessanter werden. Auch für junge Familien, die gern in der Stadt bleiben wollen. Als Beispiel gilt das Mietshaus in der Gablenzgasse 60, das 1896 als monumentales, späthistoristisches Zinshaus mit reichem Fassadendekor errichtet wurde.
Interessant für die Branche wird – ebenfalls in der Gablenzgasse – die weitere Zukunft der großen Liegenschaft der Radetzky-Kaserne, die derzeit noch das Wiener Militärkommando beherbergt, demnächst aber verkauft werden soll.
Geheimtipp
Einst galt Neulerchenfeld als des „Heiligen Römischen Reiches größtes Wirtshaus“. In 103 von 150 Häusern gab es zu dieser Zeit eine Gaststätte. Heute setzt die Ottakringer Brauerei diese Tradition fort. Es gibt fast täglich Brauerei-Führungen für Gruppen ab zehn Personen (www.ottakringer.at). Und der beeindruckende alte Gerstenboden ist längst zu einer bekannten „Event-Location“ in Wien geworden. Hier kann man das breite Biersortiment in einer angenehmen Atmosphäre verkosten, die eine perfekte Verschmelzung aus Tradition und Moderne bietet.
16., Ottakring
Fläche in ha1:867,33
Einwohner2: 97.565
Bevölkerungsdichte3: 11.249
Bevölkerungsentwicklung4: 1,23%
Gebäude5: 6.763
Zinshäuser6: 1.328
Zinshausdichte7: 20%
1 Quelle: Stadt Wien (MA 41), Flächen der Gemeindebezirke 2012 (Stand 1.9.2012)
2 Quelle: Statistik Austria, Wohnbevölkerung zu Quartalsbeginn 2013
3 Quelle: eigene Berechnung, EW/km²
4 Quelle: eigene Berechnung, Vergleich zum Jahr 2012
5 Quelle: Statistik Austria, Gebäude- und Wohnungszählung 2001
6 Quelle: Kulturgüterkataster der Stadt Wien (MA 19), eigene Erhebungen, Grundbuch (B-Blätter)
7 Quelle: eigene Berechnung, Gebäudebestand / Zinshäuser, gerundet

Der Autor
Prof. Hans Werner Scheidl: Jahrgang 1944, arbeitete von 1965 bis 2009 als Redakteur der Wiener Tageszeitung „Die Presse“. Heute ist der Zeithistoriker und Buchautor freier Journalist.
