Das historische Wien - 2. Bezirk
Die Leopoldstadt – das “Untere Werd”
Die Leopoldstadt ist der größte der inneren Bezirke Wiens. Einst nur ein Donau-Auwald und Jagdgebiet des Adels, zog der 2. Bezirk mit der Industrialisierung die Massen an. Er wurde so groß, dass im Jahre 1900 der Nordteil abgetrennt wurde. Das ist heute der 20. Bezirk (Brigittenau).
Bericht von Herbst 2013
Die einzige Gegend, die von der alten Stadt nicht durch die Stadtmauer abgetrennt war, das ist die heutige Leopoldstadt, der 2. Bezirk Wiens. Hier bildete ein Donauarm die natürliche Abgrenzung. Das gesamte Gebiet – das „Untere Werd“ – war von ständig wechselnden Flussläufen der Donau geprägt. Wie eine Insel mitten im Strom erschien den Wienern diese wenig noble Gegend. Die „Mazzes-Insel“ nannte man sie spöttisch. Denn die Leopoldstadt war Heimat, Zufluchtsstätte und sichere Insel für die jüdischen Bürger der Donaumonarchie. Aus dem „Kronland Galizien und Lodomerien“ strömten die oft bettelarmen Juden in die glitzernde Metropole, ja selbst aus Russland und aus Polen wanderten sie zu, weil sie daheim grausamen Pogromen ausgesetzt waren und die Habsburger-Monarchie einen sicheren Hort darstellte. Das Zusammenleben von Juden und Christen in der Leopoldstadt war bald selbstverständlich geworden.
Neben Geschäften, die von Christen geführt wurden, gab es auch viele in jüdischem Besitz. Unter Franz Joseph war der latente Antisemitismus der Wiener verpönt. Dieser letzte große Kaiser mag beschränkt gewesen sein, bürokratisch, reaktionär. Aber Nationalismus oder Rassismus war ihm von seiner Erziehung und seiner Herkunft her völlig fremd. Selbst Karl Lueger, der mit der Judenfeindlichkeit gefährlich spielte, nannte sie einen „Pöbelsport“.
Eine trügerische Hoffnung, wie das 20. Jahrhundert beweisen sollte. Davor freilich, vor der Deportation, vor dem Ghetto und vor der Massenvernichtung, war die Leopoldstadt ein aufblühender Bezirk, auch wenn er keine großartigen Baudenkmäler bieten konnte. Aber immerhin: Die heutige Praterstraße (früher „Jägerzeile“), die Taborstraße, der Karmeliterplatz – das waren ansehnliche Wohngegenden. Schon damals. Heute zählen sie zu den „angesagten“ urbanen Vierteln der Stadt.
In der jüngsten Zeit hat vor allem die Praterstraße wieder an Wohnwert gewonnen. Der breite Boulevard war im 19. Jahrhundert eine grandiose Kulisse für die noblen Wagen-Auffahrten, die in den Prater führten. Sehen und gesehen werden – das war hier das Motto. Und wer hier ein Haus mit Balkon sein Eigen nennen konnte, war ein gemachter Mann. Johann Strauß Sohn gehörte etwa dazu, der in der Praterstraße 54 wohnte, wo er auch „An der schönen blauen Donau“ komponierte. Fast daneben, auf Hausnummer 70, erhebt sich ein für Wiens Architektur völlig untypisches Gebäude: der „Dogenhof“ im venezianischen Stil wurde dem Cà d’Oro am Canale Grande in Venedig nachempfunden und erinnert bis heute an eine Weltsensation, die leider nach dem Ersten Weltkrieg Konkurs machte: „Venedig in Wien“ von Gabor Steiner war eine Praterattraktion, wie sie noch keine Stadt je gesehen hatte: Eine komplette Stadt mit Kanälen, Gondeln, Gaststätten – ein italienisches Disneyland des 19. Jahrhunderts, das gleich beim Riesenrad viele interessierte Besucher anlockte.
Die goldene Zeit der Leopoldstadt freilich endete 1914. Das Elend kam abrupt 1938, der Bezirk wurde zum Juden-Ghetto. Und bald war die Leopoldstadt ein Sammellager für die Transporte, die Wiens Juden in die Konzentrationslager und damit in den Tod führte.
Das ist heutzutage für viele Wiener bereits ferne Geschichte. Aber wissen soll man es. Und bedenken, wenn man durch die Leopoldstadt spaziert. Durch den 2. Wiener Gemeindebezirk.
Geheimtipp:
In der Taborstraße 10 erhebt sich ein Gebäude, das so gar nicht typisch ist für diese eher bescheidene Gegend: Die ehemalige „Produktenbörse“, die eigentlich an der Ringstraße hätte angesiedelt werden sollen. In ihr wurden lange Zeit die landwirtschaftlichen Erzeugnisse für den Wiener Markt gehandelt. Erbaut wurde das Haus von Karl König an der Stelle des Wirtshauses „Zum Goldenen Pfau“. Nach dem Weltkrieg stand dieser Prachtbau lange leer, seit geraumer Zeit ist er nun Sitz des Theaters „Odeon“.
2., Leopoldstadt
Fläche in ha1: 1924,20
Einwohner2: 96.866
Bevölkerungsdichte3: 5.034
Bevölkerungsentwicklung4: -0,83%
Gebäude5: 5.123
Zinshäuser6: 934
Zinshausdichte7: 18%
1 Quelle: Stadt Wien (MA 41), Flächen der Gemeindebezirke 2012 (Stand 1.9.2012)
2 Quelle: Statistik Austria, Wohnbevölkerung zu Quartalsbeginn 2013
3 Quelle: eigene Berechnung, EW/km²
4 Quelle: eigene Berechnung, Vergleich zum Jahr 2012
5 Quelle: Statistik Austria, Gebäude- und Wohnungszählung 2001
6 Quelle: Kulturgüterkataster der Stadt Wien (MA 19), eigene Erhebungen, Grundbuch (B-Blätter)
7 Quelle: eigene Berechnung, Gebäudebestand / Zinshäuser, gerundet

Der Autor
Prof. Hans Werner Scheidl: Jahrgang 1944, arbeitete von 1965 bis 2009 als Redakteur der Wiener Tageszeitung „Die Presse“. Heute ist der Zeithistoriker und Buchautor freier Journalist.
