Die Epoche des Zinshauses
Die Jahre zwischen 1848 und 1918 gelten als die für die Wiener Gründerzeit relevante Bauperiode. In dieser Ära durchlief der hiesige Wohnbau eine prägende Entwicklung, die der Stadt bis heute ihr spezielles Flair verleiht: Es entstanden die für Wien so typischen Zinshäuser.
Beitrag von Herbst 2010
Die Gründerzeit, getragen vom Großbürgertum in der Hochblüte des Liberalismus, war gleichzeitig die Epoche der Entwicklung Wiens zur internationalen Metropole. Die Entfaltung eines neuen Unternehmertums, nur kurzzeitig durch den Börsenkrach von 1873 unterbrochen, führte zur Entstehung einer Gesellschafts- schicht, die den Adel in vielen Funktionen ablöste – wirtschaftlich und politisch.
Diese Epoche unterteilt sich in Frühgründerzeit (ca. 1840 – 1870), Hochgründerzeit (ca. 1870 – 1890) und Spätgründerzeit (ca. 1890 – 1918).
Der Grund für die Entstehung der Zinshäuser war die Bevölkerungsexplosion, die im Zuge der Industrialisierung stattfand. Es kam zu einer umfangreichen Landflucht, unter anderem der jüdischen Bevölkerung aus den Kronländern der Habsburgermonarchie in die damalige Reichshaupt- und Residenzstadt. Während um 1800 rund 250.000 Menschen in Wien lebten, erreichte die Stadt um 1910 ihren historischen Einwohner-Höchststand von über zwei Millionen. Dieses enorme Wachstum erhöhte den Bedarf an Wohnraum in der Metropole; ein weiterer Grund für die Entstehung der Zinshäuser war das Aufbrechen der traditionellen sozialen Bindungen in der Großfamilie sowie zwischen Arbeitgebern und Angestellten. Das starke Wachstum der Einwohnerzahl kannte allerdings eine Ausnahme: In der Innenstadt war die Bevölkerungszahl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zu den restlichen Bezirken rückläufig. Die rege Bautätigkeit im Stadtkern hatte also repräsentative Gründe und diente nicht der Schaffung von Wohnraum wie im restlichen Wien. Dies zeigt sich auch in der unterschiedlichen Architektur: „Was die Art der Entwürfe und die Ausführung der Bauten betrifft, so unterscheiden sich in augenfälliger Weise die […] von den maßgeblichsten Künstlern der Zeit gestalteten Wohnpaläste von den architektonisch eher anspruchslosen Zinshäusern in den äußeren Bezirken.“
STADTERWEITERUNG
Der hohe Wohnraumbedarf in den Außenbezirken, hervorgerufen durch das dort vorherrschende starke Bevölkerungswachstum, wurde zu einem sozialen Problem: In den 1840er Jahren lebten in Wien und den Vororten bereits 500.000 Menschen; die mangelhaften Wohnverhältnisse waren ein wesentlicher Faktor für den Ausbruch der Revolution von 1848. Zur Verringerung der sozialen Sprengkraft wurden 1849 der Neubau von Wohnhäusern steuerlich begünstigt, und 1850 zur Verbesserung der Verwaltung die Vororte bis zum Linienwall (dem heutigen Gürtel) eingemeindet.
Der Wohnbau wurde mittlerweile auch für das Bürgertum zunehmend interessant, und mit den neuen Auftraggebern änderte sich auch die Gestalt der Gebäude: Die Grundstücke, die einen ganzen Straßenblock umfassten, teilte man auf, da sich die bürgerlichen Bauherren die Bebauung eines ganzen Blocks nicht leisten konnten. Die organisatorisch völlig selbständigen Einzelhäuser des Blocks wurden auch nach außen zunehmend differenziert. Diese Blockrandbebauung blieb bis 1918 der prägende Typ der Wohnhausarchitektur, die sich auch stilistisch weiterentwickelte.
DIE MINDESTSTANDARDS
Die großflächige Bebauung der Vorstädte wurde durch die Entwicklung leistungsfähiger Massenverkehrsmittel begünstigt: Die Straßenbahn bildete ab etwa 1865 eine Verbindung zwischen der Stadt und den Vororten, die 1890 eingemeindet wurden. Der Wohnraumbedarf der dort lebenden Arbeiterfamilien war enorm. Die Errichtung von kleinen, erschwinglichen Wohnungen wurde daher gefördert, wobei gewisse Mindeststandards einzuhalten waren; zum Beispiel der Verzicht auf Souterrainwohnungen oder die Bereitstellung der Wasserversorgung auf jedem Stockwerk. Um die Bodenrendite dennoch zu erhalten, wurde der erlaubte Bebauungsgrad auf 85 Prozent des Grundstücks angehoben, das heißt, die Höfe wurden zu Lichtschächten reduziert. Prächtige Fassaden sollten über den niedrigen Standard der Häuser hinwegtäuschen und die Vermietbarkeit verbessern – ungeschmückte Häuser wurden schon damals vom Markt weniger gut angenommen.
DIE SOZIALE DIFFERENZIERUNG DES ZINSHAUSES
Während die Fassadengestaltung relativ unabhängig vom Standard des jeweiligen Gebäudes war, gab es im Inneren erhebliche Unterschiede – je nach Kaufkraft und Repräsentationsbedürfnis der Klientel. Vor allem die Größe der Wohnungen, ihre Belichtung sowie die sanitäre und technische Ausstattung differierten stark.
Nobelmiethaus
Im Gebiet der Innenstadt sowie entlang der Ringstraße und der repräsentativen Ausfallstraßen der inneren Bezirke ergänzten prächtige Foyers und Stiegenhäuser die Repräsentation an der Fassade.
Bürgerliches Miethaus
Im Gebiet der Vorstädte wurden die Wohnungen meist ohne lange Gänge direkt durch das Stiegenhaus erschlossen. Pro Stockwerk waren daher nur wenige Wohnungen untergebracht. In der Spätgründerzeit wurden diese Häuser auch mit Lift und die Wohnungen mit Sanitärräumen ausgestattet.
Arbeitermiethaus
Hier wurden kleine Wohneinheiten (ab 25 m²) durch lange Gänge erschlossen, die in der Frühform außen lagen und „Pawlatschen” hießen. Von dort gelangte man typischerweise direkt in die Küche, dahinter lag meist ein Wohnraum. Wasserversorgung und Sanitärräume waren am Gang jedes Geschoßes untergebracht; in frühen Bauten gab es sie nur im Parterre.
DIE PHASEN DER GRÜNDERZEIT
Frühgründerzeit
1840 - 1870
- Parzellen anfangs noch in L- oder U-Form
- Wechsel von der rechteckigen zur quadratischen Parzelle
- Niedrige Bauhöhen
- „Pseudowohnhof“ auf Doppelparzellen
Hochgründerzeit
1870 - 1890
- Übergang zur H-Form
- Hang zum Repräsentativen, Zinshäuser als „Wohnpaläste“
- Am Stadtrand: Gründerzeitvillen
- Steigende Bodenpreise, maximale Ausnutzung der verfügbaren Flächen
- Bau der Bank- und Börsengebäude
Spätgründerzeit
1890 - 1918
- Gestaltung der Geschäftsstraßen erreicht ihren Höhepunkt
- Bau des Gürtels, Integration der Außenbezirke
- Maximale Flächenausnutzung
- Mischungen aus Jugendstil und Späthistorismus
