Weltstadt statt Weltreich − Franz Josephs Entscheidung
Gastbeitrag von Univ.-Prof. Dr. Reinhard Knoll
Anlässlich des 100. Todestages von Kaiser Franz Joseph I beleuchtet Univ.-Prof. Dr. Reinhard Knoll, welche Rolle der Kaiser für die Entstehung der Ringstraße und die damit einhergegangene städtebauliche Entwicklung Wiens spielte.
Beitrag von Herbst 2016
Die kaiserliche Entscheidung im Dezember 1857 war von weitreichender Bedeutung: Aus den Bastionen, dem Vorwerk und Glacis sollte eine eigenständige „Stadtanlage“ werden. Von ihrer Geburtsstunde an war die geplante Ringstraße ein städtebauliches Muster, das bis heute Beachtung findet.
Die Idee war, die weite Fläche zwischen den Vorstädten und dem Zentrum als Prachtstraße zu nutzen, und die Entwürfe hatten gewiss die Pariser Pläne von Haussmann im Kopf. Zu diesem Zweck wurde die Wiener Bauordnung 1859 nachhaltig reformiert und den neuen technischen Erfordernissen des Bauens angepasst. Die nächste Novelle von 1868 berücksichtigte hierauf die modernen Eisenkonstruktionen und die maschinelle Herstellung geschlämmter Ziegel. Zudem bot sie als Anreiz für vermehrte Investitionen Freistellungen von Steuerpflichten für Bauunternehmer.
Die folgenreiche Entscheidung des Kaisers für die „Modernisierung“ Wiens zählte zu den wenigen bewusst gefassten und realisierten Entschlüssen während seiner Regierungszeit und ist allein deshalb von Bedeutung. Man kann vermuten, dass nach Revolution und Verlust der oberitalienischen Länder nach einem misslungenen Feldzug ein Akzent des Erfolgs zu setzen war. So war die Diskrepanz zwischen Einbußen politischer Bedeutung und der Errichtung einer Paris oder London ebenbürtigen Residenzstadt zum Merkmal der Monarchie geworden, nämlich über eine zunehmend illusionäre Größe zu verfügen. Der Kaiser hatte sich politisch einer liberalen Stadtverwaltung angenähert, somit die neue Bürgerlichkeit einer „postrevolutionären“ Gesellschaft anerkannt, die ihrerseits den Kompromiss mit der „neoabsolutistischen“ Regierung gesucht hatte. Während in der Donaumonarchie die Probleme ins Unermessliche gestiegen waren, hatte man in Wien das Interesse auf die Kultur konzentriert, auf den Lebensgenuss − ein Widerspruch zur verbreiteten Bewunderung der offiziell für asketisch gehaltenen persönlichen Lebenshaltung des Kaisers.

Es war auch ein Teil der persönlich getroffenen Entscheidung Franz Josephs, die Interessenten an den künftigen Palästen der Ringstraße mit Steuererleichterungen und weiteren Vergünstigungen zu locken, um möglichst schnell einen Bebauungsplan entwickeln zu können. Also war der Kaiser in diesen Jahren sehr wirtschaftsliberal orientiert, stand im Widerspruch zum bisherigen gemächlichen Tempo der Stadtentwicklung, zur leichtsinnigen Lebensart, war doch allgemein eine Haltung zwischen Lebenslust und nonchalantem Fatalismus verbreitet. Der städtische Ernst galt der Musik, nicht dem Leben, weshalb auch die Hofoper als erstes Objekt projektiert war. So blieb man in Wien trotz der schwierigen Lage in der Politik in der Regierung und in der Moral leutselig und tolerant gegenüber der Liederlichkeit, in Sachen der Kunst hingegen kannte man kein Pardon − da stand die Ehre auf dem Spiel. Diese aber war vom Bürgertum und von den gebildeten Juden verteidigt worden. Der Kaiser jedoch hatte nie ein Buch gelesen, und Musik mochte er schon gar nicht.
Nun waren für das Projekt anfänglich weniger die Baukünstler gefragt, sondern zuerst einmal jene, die diese Kasematten schnell und effizient zu entfernen versprachen. Allein für Demolierung und Abtragung des Stubentores stellte der Baumeister Franz Ram 57.110 Gulden und 20 Kreuzer in Rechnung (dies entspricht einem Wert von 7,8 Mio. Euro). Ähnlich hohe Kosten wird der Abriss aller weiteren Stadttore verursacht haben. Insgesamt beteiligten sich 6.000 Pioniere an der Schleifung der Stadtmauern, und die Zahl der Taglöhner, „Demolirer“ genannt, ist nicht mehr zu schätzen. Jedenfalls waren 1861 für die Errichtung des ersten repräsentativen Gebäudes am Ring, also an der Hofoper, 1.100 Arbeiter engagiert, hingegen bei der Votivkirche nur 300.

1864 war die Demolierung der Stadtbefestigung weitgehend abgeschlossen und wurde von einem erheblichen Teil der Stadtbewohner negativ beurteilt. Sie trauerten dieser städtischen Enge und den Engführungen nach, die man gern mit Intimität oder Geborgenheit verwechselte. Jedenfalls war auf der Seite zum heutigen Donaukanal im Jahr 1858 die Sanierung zu einer breiten Avenue abgeschlossen und ein ungestörter Verkehr war von der Aspernbrücke bis zur Rotenturmstraße möglich. Da man enorm schnell und zügig an dem Projekt gearbeitet hatte, war den meisten das Ziel dieser Planung nahezu unheimlich. Obendrein bleibt die Entstehung des Generalplans für die Ringstraße im Grunde im Dunkeln, den eine Kommission inzwischen aus drei eingegangenen Entwürfen kreiert hatte. Friedrich Stache, der Onkel Heinrich von Ferstels, Ludwig Förster und August Sicard von Sicardsburg waren gleichsam die Paten der neuen Ringstraße, für die schließlich die bis heute bekannten Renommierbauten vorgesehen waren. Diese wurden an die bekannten Architekten ihrer Zeit vergeben, in erster Linie an Theophil Hansen, natürlich unter anderen an Eduard van der Nüll und August Sicard von Sicardsburg, an Gottfried Semper und Carl von Hasenauer und Ludwig Förster.

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9. Mai 1873, lähmte diesen gedämpften Fortschritt vollends. Es bedurfte mehrerer Jahre, also etwa bis 1880, um die Bautätigkeit wieder unvermindert fortzusetzen, die der Ringstraße ihre Bedeutung und den gesellschaftlichen Rang verlieh. Innerhalb von zehn Jahren fügten sich ins Konzept der Stadtplanung die Gebäude ein, die heute als selbstverständlicher Bestand gelten: Musikverein, Akademie der bildenden Künste, Burgtheater, Hofmuseen, Justizpalast, Börse, Parlament, Rathaus und Universität. Der erste Wohnbau am Ring war gegenüber der Oper der Heinrichshof, den der Ziegelfabrikant Heinrich Drasche-Wartinberg in Auftrag gegeben hatte. Er war ein großer Nutznießer der Gründerzeit, wie die geadelten Bankiers jenen Kompromiss repräsentierten, den sie in der Architektur sichtbar machen wollten: geadelt worden zu sein und dennoch dem Kapitalismus auf die Sprünge geholfen zu haben. Und obendrein war die alte Hofburg in Sichtweite, so hatte man sich in der Nähe des nunmehr schon alternden Kaisers in politischer Sicherheit gewogen.
Gewiss war diese letzte Blüte eines Reiches auf die Ringstraße konzentriert worden. Bei Hof war man weiterhin skeptisch geblieben und verteidigte mit Zähnen und Klauen das freie Feld vor der Votivkirche bis über den heutigen Rathauspark zum Aufmarsch der Artillerie aus der Rossauer Kaserne, falls städtische Unruhen drohen sollten. Wenige Zeit später waren diese „unstrukturierten“ Zwickel entlang der Ringstraße von Camillo Sitte unnachgiebig als Sünden wider den Städtebau kritisiert worden und am liebsten hätte er die Votivkirche inmitten von Häusern sehen wollen, wie bei gotischen Kathedralen die Regel. Die Verbauung des Areals zwischen Rossauer Kaserne und heutigem Parlament war dem Kaiser nach langen Gesprächen von Bürgermeister Cajetan Felder um 1870 abgerungen worden. Franz Joseph konnte sich nur schwer von dieser „Festwiese“ trennen, die anfänglich für Umzüge und Huldigungen vorgesehen war. Der Kaiser stimmte schließlich dem Ersuchen des Bürgermeisters zu, und erst danach konnten die Bauplätze für Universität, Rathaus und Parlament festgelegt werden. Als „Trost“ für den Verlust der „Festwiese“ hatte man dem gutmütigen Monarchen schließlich den Entwurf zum Kaiserforum von Semper und Hasenauer vorgelegt, dessen Achse vom Burgtor bis zur Stiftskaserne den Ring quert. Ein aufrichtiges Interesse für die beiden geplanten Museen, in die die kaiserlichen Sammlungen eingebracht wurden, hatte Franz Joseph allerdings nie zu zeigen vermocht.
So war die Ringstraße in ihrer Planung und Fertigstellung zu einer erstaunlichen Leistung gediehen, die man Wien nicht mehr zugetraut hätte. Zugleich war diese Straße der Auftakt jedes weiteren städtebaulichen Denkens, das Otto Wagner oder Josef Plecnik fortzusetzen beabsichtigten. Der „Ring“ ist auch untrennbar mit der Biografie des Kaisers, des letzten Repräsentanten der Donaumonarchie, verbunden, gleichsam ein historistischer Schlussakkord für das Reich der Habsburger in der herben Tonart eines Requiems von Johannes Brahms.

Zur Person
Univ.-Prof. Dr. Reinhold Knoll wurde 1941 in Wien geboren. Studium der Geschichte und Kunstgeschichte an der Universität Wien. 1970 - 1972 innenpolitischer Redakteur beim ORF. Hierauf Assistent am Institut für Soziologie an der Universität Wien. 1983 Habilitation in politischer und Kultursoziologie sowie Geschichte soziologischer Theorien. 1994 a.o. Univ. Prof. Lehraufträge in Univ. Bratislava, Univ. Prag, Univ. Budapest und Gödöllö, Pecs und in Cluj. Mitherausgeber einer Geschichte österreichischen Philosophierens mit Michael Benedikt und Cornelius Zehetner in 7 Bde. von 1450 bis 2000: Verdrängter Humanismus und verzögerte Aufklärung. Seit 2006 im Ruhestand und Verfasser von Satiren: Attersee und Umgebung 1 und 2.
